„Die Krise als Chance“, oder: die Geschichte eines Heiratsschwindlers

„Drum prüfe wer sich ewig bindet“, empfiehlt der Volksmund bei der Auswahl des Ehepartners. Das gleiche gilt für den, der sich vertraglich bindet, an einen Arbeitgeber. Und das Dilemma beginnt in beiden Fällen, wenn sich ein Partner für jemanden ausgibt, der er gar nicht ist.

Aktuell wirbt ein Finanzvertrieb in einer großangelegten Werbekampagne in Tageszeitungen, auf Plakaten und Online um neue Finanz- bzw. Vermögensberater – und hat sich als „Braut“ hübsch gemacht. Zumindest stellt sich der Finanzvertrieb als attraktiver Partner für den Berufseinstieg dar. „Gerade jetzt“, da alles kriselt, möchte der Finanzvertrieb mit „Krise = Chance“ mögliche Anwärter rekrutieren. Die „hübsche Braut“ hofft auf die Krise als ihre Chance. Und darauf, dass die Berufssuchenden in der Krisensituation nicht so genau hinschauen, worauf sie sich da einlassen.

Der Finanzvertrieb beweihräuchert sich selbst mit Ratings und bietet „10 gute Gründe für den Einstieg“. Wer vermutet da schon Böses? Der Blick hinter den Brautschleier ist schwer im Vorhinein und ist man erst einmal verbandelt, fällt die Trennung nicht mehr leicht. Diese Masche ist ein Teil des Erfolgs der Finanzvertriebe – und das seit über 50 Jahren.

Ein Blick hinter die Kulissen

Hinter dem Schleier ist die aufwendig angepriesene Finanzvertriebs-Welt gar nicht mehr so glitzernd und glamourös wie erwartet. Das „Potemkinsche Dorf“ kommt zum Vorschein, die Pappkameraden und Stellwände fallen in sich zusammen. Denn die schöne Anwerbekulisse soll die Anwerber davon ablenken, worum es in Wirklichkeit geht: Die „Braut“ erweist sich als Kampfmaschine auf dem Markt. Immer weiter sollen neue Mitarbeiter- und Kunden gefunden werden, denen die teuren Produkte von angebundenen Versicherungskonzernen bzw. der hauseigenen Versicherung, und Produkte weniger Fondsgesellschaften angedreht werden können. Je mehr verkauft wird, desto besser für die eigene Karriere. Der Kunde spielt nur die Statistenrolle, der mit seinem Geld anlegen oder Versicherungen kaufen soll.

Übertrieben? Leider nein. Wir waren 26 Jahre Insider in den höchsten Stufen eines Finanzvertriebs, als „Direktoren“ und Mitglieder des Clubs der besten „Verkaufsasse“. Aber wir sind zu der Einsicht gelangt: Was wir da tun und was die Finanzvertriebe tun, ist einfach nicht richtig.
Jetzt wollen wir das aussprechen, was viele ehemalige Kollegen wissen und denken, die den Ausstieg noch nicht (oder nicht mehr) schaffen.

Unter verschiedenen generischen Domains beginnt die Reise in die ach so schillernde Welt der Finanz- und Vermögensberatung für jedermann. Es geht um Emotionen und Bilder und „Eine Tätigkeit, die Sicherheit, Perspektiven und […] Flexibilität bietet“. „Chance statt Krise“, „Arbeit statt Kurzarbeit,“ „unabhängig statt abhängig.“ Blablabla.

Es ist das, was man als verunsicherter Arbeitnehmer vielleicht gerade sucht. In persönlichen Anwerbegesprächen oder Vorträgen erfährt man dann viel persönlichen Zuspruch, dabei sind auch nette Kollegen und Vorgesetzte (Gruppenleiter). Alles in Harmonie, voll menschlich und ehrlich. Vor allem, wenn jeder von seinem Weg in den Finanzvertrieb erzählt und welche Hürden er zum tollsten Beruf der Welt nehmen musste. Die Zeiten waren ja so hart, das Umfeld ungerecht und die negativen Berichte über die Finanzvertriebe entbehren sowieso jeder Realität. Und dann kam die wunderschöne Braut in ihr Leben und alles änderte sich schlagartig. Schon wieder nur: Blablabla.
Und es geht immer so weiter: Der Finanz- oder Vermögensberater wird zum Retter und Helfer seiner Kunden stilisiert, er hat die „Formel zum finanziellen Glück“ gefunden und hat für jedes Problem das passende Angebot.

Doch leider ist der Einzige, die wirklich profitiert und abkassiert der Finanzvertrieb selbst. Die Braut entpuppt sich als Heiratsschwindlerin und Top-Player der Finanzindustrie. Denn keine anderen Unternehmen in der Finanzbranche haben es in so kurzer Zeit geschafft, so viel Marktmacht zu generieren. Die heute großen Finanzvertriebe wurden meist von einer Person aufgebaut und geführt, die durch politisches Geklüngel, eiskaltes Kalkül und Machtbesessenheit einen gigantischen Konzern geschaffen haben, und sich zu Millionären und Milliardären gemacht haben. Die Rechnung bezahlt der Kunde.

Falsche Freunde und fremde Federn

Zurück zum unwissenden Arbeitssuchenden, der auf das Angebot der Finanzvertriebe hereingefallen ist. Er weiß noch nicht, dass er sich in ein Berufsfeld begibt, dass eine hohe Kompetenz, Erfahrung und viel Wissen erfordert, denn das wird ihm nicht gesagt. Stattdessen wird er auf die „Coaches“ verwiesen und einen einfachen Quereinstieg, der kein Vorwissen erfordere. Oder auf das klare Aufstiegssystem, in dem man nach dem Zuführen von drei Kunden alle Voraussetzungen habe, um sich „Finanz- oder Vermögensberater“ nennen zu dürfen. Denn wenn es um Verkauf geht, ist zu viel Fachwissen schädlich. Man rühmt sich schließlich damit, „branchenneutral“ zu sein und das reicht ja aus. Wer braucht schon Auswahl? Man kennt ja kaum alle Produkte der eigenen Produktpartner.

Dass Objektivität und Vergleiche jedem einfachen Verkaufsprozess schaden, wissen die erfahrenen Verkäufer. Deshalb sieht man den Vergleich mit anderen Produkten als nicht nötig an. Den eigenen Bewertungen zufolge hat man schließlich die besten Anbieter im Markt unter Vertrag, oft nur ein paar wenige Versicherungs- und Bankpartner, manche Finanzvertriebe haben auch nur einen einzigen Versicherungspartner.

Um aber bei einer Auswahl von 82 Versicherern am Markt die Mitarbeiter für die eigenen Produkte bei der Stange zu halten, haben die Finanzvertriebe ihr hauseigenes Rating entwickelt. Und Überraschung: die Produkte der eigenen Produktepartner stehen dabei immer gut da. Getreu dem Motto: „Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast“.

Was die Finanzvertriebe so erfolgreich macht, ist ihr außergewöhnlich gutes Marketing nach außen und (vor allem!) nach innen. Der starke Glaube und das Vertrauen in das Unternehmen und der damit verbundene gemeinschaftliche Zusammenhalt, wird ständig bearbeitet. Das soll die Mitarbeiter immun gegen externe Angriffe machen und sie bei Produktionslaune halten. Jüngster Coup des internen Marketings eines Finanzvertriebs, ist das Sponsoring von Mick Schumacher, dem Sohn von Formel-1-Legende Michael Schumacher, der die Vertriebler wieder zusammenschweißen und ihr Dürsten nach Anerkennung stillen soll.

Was so ein Deal kostet und wer das bezahlt, darüber wird geschwiegen. Denn bezahlen wird das der Kunde mit neuen, höheren Gebühren in den Finanzprodukten, wie schon in der Vergangenheit. Es wird ein neues Produkt aufgelegt oder ein altes mit neuer Kostenstruktur „upgedatet“. Als Michael Schumacher zur Werbeikone eines Finanzvertriebs aufstieg, wurde zeitgleich ein Produkt aufgelegt, dessen Markenname einen Rennbezug hat, das noch heute in vielen Ordnern der Kunden schlummert. Die Kostenstruktur war zu dieser noch nicht offenlegungspflichtig, aber ob es für den Kunden rentabel war bzw. ist, kann man selbst nachrechnen.

Verliebt, verlobt, verheiratet, geschieden

Da das System jedoch heute wie früher darauf abzielt, die neuen Mitarbeiter in die Gemeinschaft zu integrieren und eine persönliche, private Bindung zu den Kollegen zu forcieren, sind die Neuen schnell immun gegen Fakten. Diese „Impfung“ hält in der Regel so lange, bis der Freundeskreis abgeklappert ist oder die Kontaktquellen versiegen. Bei den meisten ist der Spuk nach einer Zugehörigkeit von maximal drei Jahren zu Ende. Übrig bleiben dann meist nur verbrannte Erde und Schulden aus Provisionsrückzahlungen.

Denn die wahren Hintergründe und Zusammenhänge erkennen die Mitarbeiter häufig erst, nachdem alles vorbei ist. Es braucht schon eine gewisse Tiefe und oft auch etwas Abstand, um alle Zusammenhänge zu erkennen. Doch dann zeigt der Finanzvertrieb sein wahres Gesicht: Wer keinen Umsatz mehr bringt oder zu viele unerwünschte Fragen stellt, der ist überflüssig und wird schnell aus dem System entfernt. Denn wer nicht für das System ist, ist dagegen und wird von heute auf morgen als Feind der Gemeinschaft entfernt. Stumpf und naiv, zählen die Fakten aus Verträgen. Vorbei ist es mit schönen Gemeinschaftserlebnissen, Reisen und Aufenthalten. Wir haben es selbst erlebt. Ein nüchtern programmiertes Ende. Eine Scheidung mit Ansage.

Zum Schluss hält der Finanzvertrieb immer die Karten in der Hand und verleibt sich, vertraglich geregelt, die Lebenswerke ihrer ehemaligen Mitarbeiter ein. Der Heiratsschwindler zeigt sein wahres, hässliches Gesicht und tut das, was sie am besten kann: schwindeln. Drum prüfe, wer sich vertraglich bindet.